HÖHER, SCHNELLER, WEITER? Aber was ist mit Barrieren?
Als Studierende mit chronischer Krankheit und AStAReferentin
für Inklusion beschäftige ich mich besonders mit
"Beeinträchtigungen" im Studium, wobei ich diesen Begriff
persönlich weiter verstehe und im inklusiven Kontext sehe.
Inklusion ist (nicht nur aus eigener Betroffenheit) schon seit
vielen Jahren mein absolutes Herzensthema.
Mein künstlerisches Projekt und unsere öffentliche
Ausstellung möchte ich dafür nutzen, um ein Zeichen für
mehr Toleranz in unserer Gesellschaft zu setzen, indem ich mit
Portraitfotografien und Geschichten der Diversität von uns
Studierenden in Hildesheim ein Gesicht geben möchte, um
Stereotypen zu hinterfragen und Barrieren zu überwinden.
Meine These? (Fast) jeder Studierende erlebt studienrelevante
"Beeinträchtigungen" und hat eine Geschichte zuerzählen,
auch wenn dies im Alltag oft unsichtbar bleibt!
Inklusion geht uns also alle etwas an!
DAS KONZEPT
Das Konzept besteht aus zwei Kanälen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Einerseits gibt es 100 GESICHTER von Hildesheimer Studierenden, andererseits 100 GESCHICHTEN von ihnen. Jede Geschichte gehört zu einem Gesicht, doch niemand weiß wirklich, welche zusammengehören, noch nicht einmal ich. Durch dieses Unwissen sollen wir Betrachter*innen dazu angeregt werden, Vermutungen über Zusammenhänge anzustellen und so bewusst die Schubladen in unseren Köpfen zu hinterfragen. Erkennen wir in Gesichtern Geschichten? Erkennt man Menschen mit geringem Selbstbewusstsein? Wer erlebt Diskriminierung auf dem Campus? Wer muss arbeiten um studieren zu können? Wer hat bereits Kinder? Wie sieht ein manisch-depressiver Mensch aus? Erkennt man Langzeitstudierende? Wer hat Prüfungsangst? Erkennt manArbeiterkinder? ... Die beiden Begriffe sind absichtlich ausgewählt, da sie sehr offen sind und somit im Sinne der Diversität niemanden ausschließen und verschiedene Interpretationen erlauben. Der Begriff GESCHICHTE wurde nicht nur von Roland Barthes zur Umschreibung verwendet, sondern wird aktuell auch wieder verstärkt in der Pädagogik verwendet. Die 100% sollen stellvertretend und provokativ für die gesamte Gesellschaft, oder in diesem Fall die gesamte Studierendenschaft, stehen, die im Gesamten diversitär ist. Inklusion betrifft also nicht nur Angehörige von "Randgruppen", sondern uns alle! "Höher, schneller, weiter" wird somit auf mindestens zwei Ebenen thematisiert: Individualität (Körpergröße und -maße, soziale Schichten, Privilegien, Gesundheit, ...), aber auch verschiedene Ziele in unserer Leistungsgesellschaft.
GESICHTER
Weshalb die Frontalität und Low-Key-Portraits in Schwarz-Weiß? Ich entschied mich für zentrierte und frontale Portraits in Form von Bruststücken, um den Fokus deutlich auf das einzelne Gesicht zu setzen und andere Attribute möglichst auszublenden.   Dabei orientierte ich mich zwar an der Biometrie, wollte jedoch keinen strengen Regeln folgen. Für Schwarz-Weiß und Low-Key entschied ich mich nicht nur aufgrund meiner persönlichen Vorliebe dieser bestimmten Ästhetik, sondern vorallem um die Attribute noch stärker zu vernachlässigen, da beispielsweise ein rosaner Pullover die Wirkung des Gesichts verfälschen und die Interpretation beeinflussen könnte. Außerdem wollte ich nicht verschiedene Haut- oder Haarfarben thematisieren, wie es bereits viele Künstler*innen taten. Bei der Mimik habe ich mich vorallem von Thomas Ruff, Diane Arbus, Ralf Peters, Angélica Dass und der Pass- ud Kriminalfotografie inspirieren lassen. Ich wollte einen direkten Blick und einen möglichst neutralen bzw. emotionslosen Gesichtsausdruck, wobei ich auch hier keine strengen Regeln aufgestellt habe, weshalb einige Gesichter auch lächeln. Meine Absicht war emotionale Masken, wie beispielsweise falsches Lächeln, aufzulösen und versuchen die individuelle Persönlichkeit zu erfassen. Diese Konzentration auf sich selbst fiel einigen "Gesichtern" nicht leicht und lösten verschiedene Emotionen aus, jedoch wurden diese Fotos immer als authentischer bezeichnet. 
Durch den direkten Blick sollen die Betrachter*innen direkt angesprochen und so beteiligt werden, dass sie sich Fragen zu den Gesichtern stellen, wobei sie jedoch keine Antworten erhalten. Bei allen Gesichtern war mir ein Aspekt besonders wichtig: ANALOGIE, also große Ähnlichkeit im Kontrast zu gleichzeitiger Individualität. So dienten der gleiche Bildaufbau, Lichtsituation, Bearbeitung schließlich auch die Mimik folgender Aussage: Wir sind einzigartig, aber auch gleich.
GESCHICHTEN
Die "Geschichten" bestehen aus zwei Fragen, die Negatives sowie Positives im Zusammenspiel erzählen sollen. Dabei soll es nicht nur um Antworten gehen, welche "Beeinträchtigungen" Studierende wahrnehmen, sondern auch einen Kontext, warum sie diese Barrieren auf sich nehmen und es sich lohnt. Die Fragen sind bewusst offen formuliert, aber konkret durchdacht, da ich mir so authentischere Antworten erhoffe, weil man sich genauer mit den Fragen auseinandersetzen muss. Bei der ersten Frage ist alles erlaubt. Von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, fianziellen sowie strukturellen Porblemen u.v.m. ist auch "Banales" willkommen und gleich viel Wert. Bei der zweiten Frage  kann es um  Lebensziele und -träume gehen, aber auch um Kurzfristigeres. Die Antworten müssen sich nicht zwingend   auf das Studium beziehen. Durch diese weiten Spielraum sollen auch verschiedene Beantwortungsformen  und Folgen bestimmter Vorlieben möglich gemacht werden. Dabei ist die Länge auch flexibel, sodass es egal ist, ob die Antwort nur ein Stichwort, mehrere Stichworte, Stichpunkte, Parataxe, Hypotaxe, längerer Erfahrungsberichter einer bestimmten Situation o.Ä. ist. Mir ist es wichtig, dass ich mit den Geschichten respektvoll umgehe, da ich den Mut von allen bewundere und weiß, dass für einige das Beantworten der Fragen sehr bewegend war. So habe ich die handschriftlichen Antworten lediglich übertragen, sodass die Rechtschreibung etc. unverändert blieb. Dabei fielen mir einige Antworten auf, die sehr oft genannt wurden: Leistungsdruck, Finanzielle Sorgen, Regelstudienzeit, Ängste, Stress, Zeitknappheit, Mehrfachbelastungen, Kommunikation, Perfektionismus, ... .

QUADRATE UND ZUFALL
Unter Beachtung der seriellen Anordnung habe ich mir viele Gedanken über die Anordnung der Einzelportraits gemacht. Über diesen Überlegungen stand die konzeptuelle Entscheidung, dass sowohl jedes Portrait als auch das Tableau quadratisch sein müssen. Somit ergeben viele einzelne Quadrate als 1% ein Großes - 100%. Anders ausgedrückt: viele Gesichter ergeben eine Gesellschaft, oder zumindest eine Gruppe wie unsere Studierendenschaft. Wie ich bereits erwähnt habe, sollen diese 100% stellvertretend und provokativ für das Ganze stehen und zeigen, dass Inklusion uns alle betrifft. Daher entschied ich mich bewusst gegen ein Aufzeigen von "Randgruppenidentitäten", wie es viele andere Künstler*innen tun. Mir war es besonders wichtig, dass ich nicht nach einem System ordne, wie beispielsweise nach Geschlecht, Reihenfolge der Aufnahmen oder Alter. Außerdem wollte ich auf keinen Fall selektieren und mir Gesichter aussuchen, sondern jedes Gesicht präsentieren. Das Ziel hinter diesem Vorgehen ist, dass ich Diversität aufzeigen möchte und keine Hierarchien. Die Diversität sollte auch nicht einen realen Querschnitt der Studierendenschaft zeigen, sondern einfach 100 Studierende, die ihre Geschichte erzählen wollen, um ein Zeichen zu setzen. Um dies ohne Eingreifen zu ermöglichen, habe ich mit Hilfe des Zufalls per Kontaktabzug drei verschiedene Versioen in InDesign erzeugen lassen, von denen ich nur eine Version ästhetisch fand, da das Tableau bei dieser Version am gleichmäßigsten wirkte. Außerdem gefiel mir die Position meines Gesichtes, da ich als erstes Quadrat eine Art symbolischer Anfang bin, der einleitend wirken könnte. Da ich mir anfänglich wünschte, dass mein Gesicht an einer beliebigen Position auftaucht, war dies jedoch Zufall.
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